Dramaturgie(Internet)
Dramaturgie1: Internet
In seinem Aufsatz „Database as a symbolic form“ beschreibt Lev Manovic die Datenbank und die Erzählung („narrative“) als zwei seit der Entwicklung symbolischer Speicherungen in der Menschheitsgeschichte miteinander konkurrierende Arten und Weisen der Repräsentation (und der Leseverfahren von Repräsentationen) von Welt. „As a cultural form, database represents the world as a list of items and it refuses to order this list. In contrast, a narrative creates a cause-and-effect trajectory of seemingly unordered items (events). Therefore, database and narrative are natural enemies.“
Im Mai 2006 hatte Paytotheorderofofof2, eine damals recht beachtete Youtube-Videobloggerin, keine Lust mehr, weitere Videoblogs zu veröffentlichen, weil sie in einer Reihe von Kommentaren beschimpft worden war. Ein paar Wochen später lud Paytotheorderofofof2 dann doch wieder ein neues Video hoch und erklärte ihre Abwesenheit damit, dass Dinosaurier ihr Haus zerstört hätten und es etwas gedauert hätte, dies wieder aufzubauen . Kurz danach postete Lonelygirl15 zu diesem Video ein „Antwort-Video“ mit einer Montage aus einer einfachen Dinosaurier-Animation und Elementen aus Videos von Paytotheorderofofof2 und unterlegte die Montage mit einem klug ausgewählten angesagten Musikstück. Das war der Anfang des Internet-Phänomens „Lonelygirl15“. Unter diesem Account stellte am 16.6.2006 „Bree“ mit dem Video „Dorkiness prevails“ ihr erstes Video in der Youtube ein. Lonelygirl15 wurde in der noch relativ kleinen Gemeinde von Youtube-Bloggern und -Zuschauern schnell bekannt und rege kommentiert. „Bree“ wirkte „authentisch“, wusste trotz ihres jungen Alters von 16 Jahren die Videoblog-Ästhetik gut zu bedienen und sah vor allem gut aus. „It's a face made for the browser screen“, schrieb Joshua Davis später in The Wire über die Schauspielerin Jessica Rose, die Bree spielte.
„In general, creating a work in new media can be understood as the construction of an interface to a database“ : In der Youtube-Gemeinde war nämlich die Tatsache unbekannt, dass das Browser-Gesicht Brees als ein inszeniertes Interface die Empathie-Algorithmen der User zum Abfragen der Datenbanken steuerte und dass Jessica Rose kurz zuvor von Mesh Flinders und seinem Freund Miles Beckett gecastet worden war. Und dass Amanda Goodfried, die Frau des Anwaltes der beiden Erfinder, den schrift-basierten Teil des Charakters „Bree“ verkörperte und fleißig über die Nachrichten- und Kommentarfunktionen mit den Usern kommunizierte. Charaktere hießen übrigens auch die beweglichen Lettern der Gutenberg-Technologie, die ein neues Dispositiv einer Medien-Subjektivität aufstellten: „[M]it der Gutenbergschen Erfindung der Reproduktionstechnik einer homogenisierten Schrift aus beweglichen Lettern (Charaktere) ist auch der Sozialisationstyp eines innengeleiteten Lesers entstanden, d.h. die Diskursfigur einer Innerlichkeit, mittels derer der ‚stille‘ Leser zum Autor seines Gewissens wurde. Statt äußerer Beichte: innere Herzensprotokolle.“
Was zunächst als Herzensprotokoll eines 16-jährigen Mädchens irgendwo aus dem Inneren des Weiten Landes anfing, generierte eine background-story, in der die üblichen Teenager-Fragen: das Schweigen des boy-friends (der später seinen eigenen Youtube-User „DanielBeast“ haben sollte), das Unverständnis der Eltern und die allgemeine Verzwicktheit der Kosmologie, ihren Platz haben sollten. Film-Dramaturgie im Internet, das versuchte Miles Beckett auf der Suche nach Film-Geld den Film-Investoren klarzumachen, ist nicht sequenziell sondern vernetzt und datenbankorientiert, muss offene Grenzen haben und beschränkt sich vor allem nicht auf das zeitbasierte AV-Ereignis, sondern schließt die Marginalien als konstituierende Elemente der Erzählung mit ein.
Die Geschichte von Lonelygirl15 verkomplizierte sich, als Bree erklärte, dass ihre Eltern Mitglieder einer merkwürdigen religiösen Sekte seien und ihre eigene Initiation kurz bevor stünde. Kurz danach flog die Inszeniertheit von Lonelygirl15 auf, was aber dem Erfolg der Serie, die sich immer weiter in einer Detektivgeschichte um die merkwürdige Sekte verstrickte, zunächst keinen Abbruch tat. Miles Beckett und Greg Goodfried gründeten 2008 die Firma EQAL, und es gelang ihnen, 5 Mio. $ an Venture-Kapital aufzutreiben. Das LG15-Universum wurde ausgeweitet, andere Serien kamen dazu. Allerdings muss festgestellt werden, dass EQAL sich allmählich von der Produktion innovativer Narrationen zu einem Programmierer von „influencer networks around celebrities, consumer brands, and intellectual properties“ diversifizierte und im September 2012 von „Everyday Health“ aufgekauft wurde. Internet-Film-Ökonomie ist schwieriger als die des klassischen Films, Internet-Film-Mogule gibt es bisher auch noch nicht (vom Pornogeschäft abgesehen). Der Versuch der Deutschen Telekom, eine Plattform für deutschsprachige Webisodes zu implementieren (3min.de), wurde im Mai 2011 wieder aufgegeben.