Günther
Günther ist 52 Jahre alt und Polizist.
Mit 17 Jahren beginnt Günther nach Bestehen der mittleren Reife eine Ausbildung bei der Polizei in Stuttgart. Während der Ausbildung fällt er als interessierter Polizeischüler auf, der mehr will als seine Mitlehrlinge, gerne liest und einen weiteren Horizont hat.
1977, im letzten Jahr seiner Ausbildung, wird auf Demonstrationen eingesetzt. Dabei erlebt er den Hass von Atomgegnern usw. auf die Polizei, junge Leute (aber eben doch einige Jahre älter als er selbst), die ihn bekämpfen, beschimpfen, mit Steinen bewerfen. Er versteht das nicht, versteht auch nicht, wieso die älteren Kollegen so auf die Demonstranten einprügeln. Was hier pasiert, ist ihm vollkommen unbekannt, das war auch nicht das, was er sich vorgestellt hatte, als er sich entschieden hatte, Polizist zu werden. Der Deutsche Herbst und sein Ausgang mit den Toten in Stammheim verstören ihn noch mehr.
Günther bewirbt sich an der Hochschule der Polizei in Villingen-Schwenningen für ein Studium zum Kriminalbeamten im höheren Dienst und bekommt 1982 (auf Empfehlung seiner Vorgesetzten) einen Studienplatz, was ihn sehr freut. Günther hat es satt, auf der Straße in Uniform den Staat zu repräsentieren. Er möcht ein Zivil arbeiten können, ermitteln, nachdenken, recherchieren, zur Kripo kommen. Richtige Polizeiarbeit eben. Günther ist jetzt 24 Jahre alt. Beim Studium legt er sich wahnsinnig ins Zeug. Es macht ihm Spaß. Allerding fängt er nach einiger Zeit an, zu übertreiben. Er stellt zu viele Fragen. In den juristischen Seminaren verstrickt er die Professoren in sinnlose juristische Diskussionen. Seine Kommilitonen sondern sich von ihm ab. Gleichzeitig arbeitet er zu viel. Günther übertreibt. Er kann sich nicht auf das Wesentliche beschränken. Seine Klausuren werden unleserlich, seine Referate verworren. Er fängt Streit mit dem Lehrkörper an. Nachts bekommt er Panikattacken. Als dann noch seine Mutter stirbt, hat er einen Nervenzusammenbruch. Er darf ein Semester wiederholen, seine Leistungen fallen aber immer mehr ab und er muss die Polizeihochschule mit 27 wieder verlassen.
Diese Krise verwindet Günther nie. Er steigert sich in die Vorstellung hinein, dass er einem Komplott des Professors für Verwaltungsrecht zum Opfer gefallen ist.
Jedenfalls ist Günther mit 27 wieder im einfachen Dienst, wieder auf der Wache, wieder auf Streife. Er fängt an, sich autodidaktisch weiterzubilden. Täglich sieht man ihn nach Feierabend in der Württembergischen Landebibliothek. Er frisst Psychologie, Recht, Wirtschaftswissenschaften in sich hinein. Günther legt sich ein privates Zeitungsarchiv an, das er bis heut führt. Er wird immer querulantischer und eigenbrötlerischer, weshalb er bei Beförderungen regelmäßig übergangen wird und im mittleren Dienst stecken bleibt: Streife gehen, auf der Wache Anzeigen annehmen usw. Im Dienst und bei den Kollegen ist er zwar beliebt, wird aber belächelt, für schrullig gehalten und ist nicht wirklich Teil des kollegialen Soziallebens. Seine Kollegen auf der Wache schätzt Günther zwar, hält sie aber im Grunde für uninteressierte Kerle, die tun was man ihnen sagt.
1987 tritt Günther der kürzlich gegründeten Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer Polizisten bei. Hier findet er eine neue Heimat. Er ist ein aktives Mitglieder der Kritischen Polizisten, was seine Karriere weiter verbaut. Regelmäßig äußert er sich in Leserbriefen zu verschiedenen Themen (Übergriffe auf Demonstrationen, Rassismus in der Polizei, die neuen Polizeigesetze...) und wird ebenso regelmäßig von seinem Vorgesezten zum Gespräch zitiert. Immer wieder gibt es Disziplinarverfahren, die aber zu nichts führen.
Ab Mitte der 90er Jahre, die Gruppe der Kritischen Polizisten zerfällt zusehends, verschiebt sich das Engagement von Günther. Er fängt an zu "recherchieren", wie er das nennt. Er hört sich um. Beim Streifegehen schreibt er sich alle möglichen Details in eine kleine Kladde, die er ständig dabei hat. Er sammelt Zeichen, Hinweise, Indizien. Günther verspürt einen starken Auftrag: er dringt in seinen privaten Forschungen immer weiter in die esoterische Literatur über Geheimgesellschaften vor.Über die Jahre setzen sich seine Recherchen zu einem großen, überkomplexen Bild zusammen: in Stuttgart existiert ein Komplott von Männern aus den Entscheidungsrängen, teilweise mit Verbindungen in die Exekutive, auch in gewisse Kreise der Polizeihochschule Villingen-Schwenningen. Vor allem aber in de Geheimdienste und in die Unterwelt. Es handelt sich um typische Stuttgarter Honoratioren: Männer der Wirtschaft, Politiker, Banker. Günther gibt dieser Gruppe den Namen "P12" in Anlehnung an die P2, die in den 70ern in Italien existierte.
Günther betreibt seine Recherchen zwar weiter, hält sich aber mit den Konsequenzen, die er aus ihnen zieht mittlerweile zurück. Im Dienst ist man erleichtert darüber, dass seine ständigen Eingaben, Aushänge am schwarzen Brett, Leserbriefe usw. mehr oder weniger zum Erliegen gekommen sind.