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| + | == Theoretische Fragen == |
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| Das Projekt berührt zahlreiche theoretische Fragen, die für die Erforschung der Zone zwischen Film und Neuen Medien relevant sind: | | Das Projekt berührt zahlreiche theoretische Fragen, die für die Erforschung der Zone zwischen Film und Neuen Medien relevant sind: |
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| Wo „Öffentlichkeit“ nicht nur als Publikum eines Werkes bzw. Adressat einer Botschaft, sondern als konstituierender Bestandteil eines solchen gesucht wird, stellen sich Fragen nach der Durchlässigkeit der Werkgrenzen, der Offenheit der Komposition und der Ausgedehntheit der Zeichen. | | Wo „Öffentlichkeit“ nicht nur als Publikum eines Werkes bzw. Adressat einer Botschaft, sondern als konstituierender Bestandteil eines solchen gesucht wird, stellen sich Fragen nach der Durchlässigkeit der Werkgrenzen, der Offenheit der Komposition und der Ausgedehntheit der Zeichen. |
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− | ''Wir haben zunächst verschiedene Webserien und ihre verschiedenen Strategien der Generierung oder Einbeziehung von Öffentlichkeit untersucht. Im Weiteren haben wir uns mit verschiedenen Youtube-Genres wie Videoblogs, Tutorials, Remixes beschäftigt, mit der Art und Weise, wie über Youtube-Videos verhandelt wird, und wie Youtube-Videos selber tendenziell Verhandlungen sind.
| + | Siehe auch: [[Datamoshing]], [[Kompression]], [[Geografien]], [[Orte, Vektoren, Territorien, Geografien]] |
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− | == Dramaturgie1: Internet ==
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− | In seinem Aufsatz „Database as a symbolic form“ beschreibt Lev Manovic die Datenbank und die Erzählung („narrative“) als zwei seit der Entwicklung symbolischer Speicherungen in der Menschheitsgeschichte miteinander konkurrierende Arten und Weisen der Repräsentation (und der Leseverfahren von Repräsentationen) von Welt. „As a cultural form, database represents the world as a list of items and it refuses to order this list. In contrast, a narrative creates a cause-and-effect trajectory of seemingly unordered items (events). Therefore, database and narrative are natural enemies.“
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− | Im Mai 2006 hatte Paytotheorderofofof2, eine damals recht beachtete Youtube-Videobloggerin, keine Lust mehr, weitere Videoblogs zu veröffentlichen, weil sie in einer Reihe von Kommentaren beschimpft worden war. Ein paar Wochen später lud Paytotheorderofofof2 dann doch wieder ein neues Video hoch und erklärte ihre Abwesenheit damit, dass Dinosaurier ihr Haus zerstört hätten und es etwas gedauert hätte, dies wieder aufzubauen . Kurz danach postete Lonelygirl15 zu diesem Video ein „Antwort-Video“ mit einer Montage aus einer einfachen Dinosaurier-Animation und Elementen aus Videos von Paytotheorderofofof2 und unterlegte die Montage mit einem klug ausgewählten angesagten Musikstück. Das war der Anfang des Internet-Phänomens „Lonelygirl15“. Unter diesem Account stellte am 16.6.2006 „Bree“ mit dem Video „Dorkiness prevails“ ihr erstes Video in der Youtube ein. Lonelygirl15 wurde in der noch relativ kleinen Gemeinde von Youtube-Bloggern und -Zuschauern schnell bekannt und rege kommentiert. „Bree“ wirkte „authentisch“, wusste trotz ihres jungen Alters von 16 Jahren die Videoblog-Ästhetik gut zu bedienen und sah vor allem gut aus. „It's a face made for the browser screen“, schrieb Joshua Davis später in The Wire über die Schauspielerin Jessica Rose, die Bree spielte.
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− | „In general, creating a work in new media can be understood as the construction of an interface to a database“ : In der Youtube-Gemeinde war nämlich die Tatsache unbekannt, dass das Browser-Gesicht Brees als ein inszeniertes Interface die Empathie-Algorithmen der User zum Abfragen der Datenbanken steuerte und dass Jessica Rose kurz zuvor von Mesh Flinders und seinem Freund Miles Beckett gecastet worden war. Und dass Amanda Goodfried, die Frau des Anwaltes der beiden Erfinder, den schrift-basierten Teil des Charakters „Bree“ verkörperte und fleißig über die Nachrichten- und Kommentarfunktionen mit den Usern kommunizierte. Charaktere hießen übrigens auch die beweglichen Lettern der Gutenberg-Technologie, die ein neues Dispositiv einer Medien-Subjektivität aufstellten: „[M]it der Gutenbergschen Erfindung der Reproduktionstechnik einer homogenisierten Schrift aus beweglichen Lettern (Charaktere) ist auch der Sozialisationstyp eines innengeleiteten Lesers entstanden, d.h. die Diskursfigur einer Innerlichkeit, mittels derer der ‚stille‘ Leser zum Autor seines Gewissens wurde. Statt äußerer Beichte: innere Herzensprotokolle.“
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− | Was zunächst als Herzensprotokoll eines 16-jährigen Mädchens irgendwo aus dem Inneren des Weiten Landes anfing, generierte eine background-story, in der die üblichen Teenager-Fragen: das Schweigen des boy-friends (der später seinen eigenen Youtube-User „DanielBeast“ haben sollte), das Unverständnis der Eltern und die allgemeine Verzwicktheit der Kosmologie, ihren Platz haben sollten.
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− | Film-Dramaturgie im Internet, das versuchte Miles Beckett auf der Suche nach Film-Geld den Film-Investoren klarzumachen, ist nicht sequenziell sondern vernetzt und datenbankorientiert, muss offene Grenzen haben und beschränkt sich vor allem nicht auf das zeitbasierte AV-Ereignis, sondern schließt die Marginalien als konstituierende Elemente der Erzählung mit ein.
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− | Die Geschichte von Lonelygirl15 verkomplizierte sich, als Bree erklärte, dass ihre Eltern Mitglieder einer merkwürdigen religiösen Sekte seien und ihre eigene Initiation kurz bevor stünde. Kurz danach flog die Inszeniertheit von Lonelygirl15 auf, was aber dem Erfolg der Serie, die sich immer weiter in einer Detektivgeschichte um die merkwürdige Sekte verstrickte, zunächst keinen Abbruch tat. Miles Beckett und Greg Goodfried gründeten 2008 die Firma EQAL, und es gelang ihnen, 5 Mio. $ an Venture-Kapital aufzutreiben. Das LG15-Universum wurde ausgeweitet, andere Serien kamen dazu. Allerdings muss festgestellt werden, dass EQAL sich allmählich von der Produktion innovativer Narrationen zu einem Programmierer von „influencer networks around celebrities, consumer brands, and intellectual properties“ diversifizierte und im September 2012 von „Everyday Health“ aufgekauft wurde. Internet-Film-Ökonomie ist schwieriger als die des klassischen Films, Internet-Film-Mogule gibt es bisher auch noch nicht (vom Pornogeschäft abgesehen). Der Versuch der Deutschen Telekom, eine Plattform für deutschsprachige Webisodes zu implementieren (3min.de), wurde im Mai 2011 wieder aufgegeben.
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− | ''Im Übergang zur Praxis haben wir eine fiktive Webserie entworfen und für diese die ersten Episoden gedreht. Dabei sind wir schnell an das frustrierende Rezeptionserlebnis der notwendig begrenzten Wahlfreiheit von wenn-dann-Szenarien gelangt, die sich dann ergeben, wenn filmische Narration in einem einseitigen Prozess auf interaktive Umgebungen übertragen wird: Übrig bleibt dann oft nur noch das zappelnde Suchen nach Anschlüssen.''
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− | == Netz-Psychologie ==
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− | Im vor allem auf der Tonebene bemerkenswerten Film „The Exorzist“ (William Friedkin, USA 1973) wird der 12-jährigen (und wie sich später herausstellen wird, vom Teufel besessenen) Regan in der Klinik von dem Psychiater Ritalin verschrieben. Die Therapie schlägt nicht an, im Gegenteil: Danach ist der Dämonenkanal in den Mädchenkörper geöffnet.
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− | Vielleicht könnte man sagen, dass neue Medien auch neue psychische Störungen favorisieren: der Photographie als das indexikalische Medium, das die Pose vom Körper löst und auf ein Stück Papier klebt, entspräche dann die Hysterie. Dem Film als dem präsentischen und immateriellen Lichtmedium, das mit visuellen Splittern und akusmatischen Stimmen die Bewusstseine besetzt, entspräche dann die Psychose, und dem Device/Internet-Komplex als Medium zweiter Ordnung der Vernetzung und Simulation von anderen Medienmöglichkeiten das Krankheits-Bild ADHS.
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− | Dann konnte die Medikation Regans mit Ritalin nur schiefgehen: Es war für diese Störung und dieses Medium einfach das falsche Medikament.
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− | Vielleicht müsste man aber auch, um diese Argumentation weiterzuverfolgen, anders herum das, was sich als Störung von Wahrnehmung in die Diagnose schreibt, als spezifische „Medienkompetenz“ untersuchen: „Norbert Wiener once suggested shaking a machine in case it did not work (…). The children diagnosed (…) with ADHD might just be shaking themselves in order to distill perceivable objects out of the masses of data that make up images on the internet.“
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− | Die Verkopplung der Schüttelrezeption mit den Datenbanken produziert dann manchmal Botschaften, die sich in Datenbanken wie Wahrnehmungen selbstständig machen, Botschafts-Entitäten, die ohne Senderintention im Möglichkeitsraum der Datenbanken wie der Wahrnehmung aus den Augenwinkeln und zwischen Tür und Angel schwirren : Internet-Meme Botschafts- und Verhaltens-Viren, Parasiten-Informationen, die den Sender selber zu ihrem Kanal machen.
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− | ''Wir haben in der Filmgeschichte selber Hinweise auf Möglichkeitsräume von narrativen Netzen gefunden. Und darin zeigt sich auch, wie sehr jeder Prozess einer Remediation kein teleologischer Vorgang ist, der schlicht „alte“ Medien in „neuen“ simuliert, bis sich eigene Formen in den „neuen“ Medien herausgebildet haben, sondern dass das Verhältnis komplexer ist, dass nicht immer klar ist, welches Medium das simulierende und welches das simulierte ist.''
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− | ''Einen Hinweis fanden wir im Verschwörungsfilm der 70er Jahre, zu nennen wären dabei „Three Days of the Condor“, Sidney Pollack, USA 1975, „The Conversation“, Francis Ford Coppola, USA 1974, und als deutsches Beispiel „Welt am Draht“, RW Fassbinder, D 1973.
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− | Allen drei Filmen ist gemein, dass sie von und durch Medien handeln, bei Pollack ist es Literatur und Fotografie, bei Coppola Soundaufnahmen und deren Bearbeitung, bei Fassbinder die virtuelle Realität eines Großrechners. Alle drei Filme konstruieren mit unterschiedlichen Mitteln paranoide Kaskaden von Geschichten hinter Geschichten, Geschichten, die dazu konstruiert werden, um andere Geschichten zu kontrollieren, Geschichten, die nicht zu Ende geführt werden und die die narrativen Ränder des jeweiligen Filmes ausfransen lassen und offen halten.''"
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− | ''Ein weiterer wichtiger Hinweis waren einige Filme des Horrorgenres um die Jahrtausendwende, zu nennen wären dabei „The Ring“ als Remake von Gore Verbinski, USA 2002, „The Others“ von Alejandro Amenábar, 2001, „Rec“, Jaume Balagueró, Spanien 2007, oder „The Sixth Sense“, M. Night Shyamalan, USA 1999. Auch in diesen Filmen tauchen Medien in unterschiedlichen narrativen Implementierungen auf; die genannten Filme behandeln die Abgründe der Medien aber weniger in ihrer hypermedialen Verschachtelung als in ihrem paramedialen Realen. Es geht um die Grenzen dessen, was überhaupt bezeichen- und repräsentierbar ist, um das Reale der lebenden und toten Körper.''
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− | == Intelligente Störungen ==
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− | In seiner 1978 in Polen erschienenen Erzählung „Professor A. Donda“ schildert Stanisław Lem die wissenschaftliche Karriere des Kybernetikers A. Donda. Ausgehend von dem kybernetischen Axiom von den drei Erscheinungsweisen der Masse, nämlich Materie, Energie und Information, vertritt Donda die These, dass so wie Materie bei einer kritischen Masse etwa von Uran in Energie übergeht, Information ab einer kritischen Masse (der „Donda’schen Barriere“) in Materie übergehen kann: „Dort, wo Milliarden von Bits waren, entsteht eine Handvoll Atome. Die Zündung der Kettenreaktion wird die Welt mit Lichtgeschwindigkeit durchlaufen und die großen Gedächtnisbanken, die Computer verwüsten; überall, wo die Dichte eine Million von Bits pro Kubikmillimeter überschreitet, entsteht eine äquivalente Anzahl von Protonen – und Leere.“ Donda wurde von der wissenschaftlichen Gemeinde ausgelacht und verstoßen. Wütend zieht er nach Afrika und überzeugt einen Potentaten davon, die leistungsfähigen Supercomputer von IBM zu kaufen, um in ihnen Flüche und Zaubersprüche zu speichern. Quatsch-Information, aber Information, die irgendwann die Donda’sche Barriere übersteigt, und da hat die Welt den Salat: In einer Kettenreaktion verpufft das gesamte gespeicherte Wissen der Welt in eine Handvoll Atome.
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− | 8 Bits sind 1 Byte, 1 Millionen Bits also nur 128 KB. Jeder USB-Stick überschreitet die Donda’sche Barriere also um ein sehr viel Vielfaches. Allerdings verweist schon der enorme Stromverbrauch des Internets (1000 Google-Anfragen erzeugen etwa so viel CO2 wie ein Auto auf 1 km Fahrt ausstößt) auf eine Materialität des sogenannten Digitalen, deren Leugnung der unserer Kultur zugrunde liegenden und nicht anders als religiös zu nennenden Vorstellung folgt, dass es „Information“ als materielose Entität überhaupt „gibt“.
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− | Kittler weist in seiner Schrift „Signal – Rausch – Abstand“ auf eine weitere Information-Materie-Verkopplung hin: Die höchste Informationsdichte pro Zeiteinheit ist dann erreichbar, wenn das Frequenzband des Kanals in allen Teilbereichen ausgenutzt wird. Eine der Haupteigenschaften vom Zufallsrauschen besteht darin, über das ganze Energiespektrum verteilt zu sein („Weißes Rauschen“). „Und da das thermische Rauschen, das alle Materien, also auch Widerstände oder Transistoren,
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− | nach einer wiederum Boltzmannschen Formel bei Arbeitstemperaturen abstrahlen, ein derart weißes Rauschen ist, sind Information ohne Materie und Materie ohne Information verkoppelt wie die zwei Lesarten eines Vexierbildes.“
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− | Kommunikation im Angesicht des Rauschens. Das Rauschen des Kanals, das sich wie ein Parasit an das Signal heftet (tatsächlich bedeutet das französische Wort „parasite“ sowohl den Schmarotzer als auch die elektromagnetische Störung), ist das, was vom Signal abgetrennt werden muss, damit das Signal „sauber“ beim Empfänger ankommt. Und das wiederum muss auf der Empfängerseite passieren. Jeder Kommunikationsvorgang besteht also aus einer „Umwandlung von losgeschicktem Signal in (potentiell) gestörtes Signal in rückverschlüsseltes Signal“. Wo aber ist in diesem Dreiecksverhältnis Sender – Kanal (+Störung) – Empfänger Intelligenz zu unterstellen? Was, wenn wie in Kriegssituationen ein Dritter, der Feind, in das Kommunikationsschema tritt (und genau das war der Ausgang Shannons)? Dann wird der Feind zur Störung, denn die Information ist wertlos, wenn sie beim Empfänger angekommen ist: „Die Schwelle, durch deren Überschreiten das Medium erst zur Botschaft, die eigen- und fremdinduzierte Störung zumindest partiell ‚entstört‘ werden kann, liegt (wie bei Shannon) in der Grenzziehung von unerwünschtem und erwünschtem, von feindlichem und freundlichem Empfang.“ Das Signal muss verschlüsselt, also gestört werden, um die Störung zu neutralisieren, und beim Empfänger rückverschlüsselt werden. Auf diese Art und Weise ist in dem Materieteil des Kanals, der sich parasitär an die Information heftet, plötzlich Intelligenz, Absicht, Verhalten. „Genauso machbar ist allerdings die Annahme, daß das bereits codierte Signal von einer feindlichen Intelligenz noch einmal codiert wurde – und zwar um so erfolgreicher und rätselhafter, je weißer es rauscht.“
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− | À propos Intelligenz: Lems Professor Donda macht, indem er die Schwelle zwischen Information und Materie zurückrechnet, den Gottesbeweis: „Wie ist das Weltall entstanden? Explosiv! Das ist das göttliche Rezept: Rückwärts zählen von Unendlich bis Null. Als Er dahin kam, materialisierte sich die Information explosiv – entsprechend der Äquivalenzformel.“
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− | ''In Bezug auf die narrativen Parameter orientierten wir uns um und begannen, vor allem die inszenierten Kurzfilme weniger als in sich geschlossene diegetische Einheiten zu begreifen, die miteinander zu verknüpfen wären, sondern eher als Knoten eines virtuellen Ganzen, das sich in einem top-down-Prozess in den einzelnen Film-Clips aktualisiert.''
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− | Abb 1. Knoten
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− | ''Um die paranoiden und paranormalen Ausfransungen filmischer Diegesen zu nutzen, haben wir die Figur des paranoiden Polizisten Günther konstruiert, der einer Verschwörung in Stuttgart hinterher jagt.''
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− | Günther zu Steve: „Die Kompressionsalgorithmen legen reine DIFFERENZ-VERLÄUFE an! Die werden dadurch konstruiert in den MPEG-Kompressionsalgorithmen, und ICH HAB DIR JA GESAGT, mit dem Wasser, wie das ist, das WASSER, die ganze Scheiße mit den Chemtrails und so weiter, die Strahlung mit dem Wasser, was die kontrollieren wollen, die wird sichtbar in diesem Bereich, in der digitalen Aufzeichnung der Strahlung, und wenn wir die KOMPRESSIONSALGORITHMEN gegen die Strahlung selber umkehren! Das machen wir! Wir filmen das Wasser!“
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− | ''Für die paranormalen Ausfransungen haben wir einen Chor eingeführt, der an die Präsenz der Toten auf den anderen Seiten der Bildschirmmedien erinnert.''
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− | == Dramaturgie2: Erinnyen ==
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− | ''„Du willst mich Alte niederrennen, Knabe. Doch / Ich harre aus, zu hören, wie das Urteil fällt. / Werd ich ergrimmt sein auf die Stadt? Noch weiß ich's nicht.“''
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− | Sagt bei Aischylos die Chorführerin der Eumeniden (=Erinnyen) zu Apoll. Der hat nämlich Orest dazu angestiftet, seine Mutter Klytaimestra umzubringen, die wiederum ihren Mann (und Orests Vater) Agamemnon nach seiner Rückkehr aus dem Trojanischen Krieg abgeschlachtet hatte, weil der ihre Tochter Iphigenie der Göttin Artemis geopfert hatte... Der Gott der Dichtkunst bringt das abstrakte Recht in Anschlag, das über den Dingen schwebt und wägt und Kausalketten rekonstruiert, die vorzeitlichen Rachegöttinnen dagegen berufen sich auf das uralte Vor-Recht des Blutes, nach dem der Mord an der Mutter ein Frevel ist, der außerhalb jeder Rechtfertigung steht.
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− | Apoll: die Rekonstruktion von Kausalketten zu einem Text (Familientragödie). Erinnyen: die blinde Jagd nach der Spur des Realen, des Restes, der Schlacke des Blutes, die nicht in der Repräsentation aufgeht (Rache).
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− | Jede Erzählung, sei sie nun als „dokumentarische“ oder als „inszenierte“ zu lesen, stellt eine Oberfläche bereit, auf die die Protagonisten als Figuren (der AutorIn, des Publikums...) projiziert werden können. Und wie jede Projektion schließt sie das aus, was weder im Symbolischen noch im Imaginären einen Platz findet. Das wäre vielleicht eine Art vertikaler Komponente zur Erzählung, deren einer (parafiktionaler) Pol die Materie und deren anderer (metafiktionaler) Pol die Paranoia ist. Dieser Spur folgend stehen die Mineralgeister auf der anderen Seite des Phantoms P12, dem Günther nachjagt und dem er mit seinen Recherchen in den Kompressionsartefakten auf die Schliche kommen will.
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− | Die Mineralgeister, sich selber mit Ach und Krach unvermittelt und vollkommen frei von jeder Kontinuität (geschweige denn: Kausalität) in die Medien projizierend, stellen sich zunächst vor bzw. übersetzen ihre Identität in dieses für sie merkwürdige und äußerst gewalttätige Milieu. Alsdann nehmen sie Bezug auf die erbärmliche Oberfläche der Erzählung und darüber hinaus jeder Art von Geschichtlichkeit überhaupt. Mit der Nase am Boden hetzen sie den Blutspuren hinterher, die die Kommunizierer und Spekulanten, die Erde schändend, auf ihr hinterlassen. Die Mineralgeister, sich einmal auf die idiotische Zeitlichkeit der menschlichen Rede eingelassen, scheinen vorsprachliche Muster nutzen zu können, um sich einen Kanal in die Repräsentation zu öffnen. Komprimieren und Verstopfen ist alles, was sie dort an Aktivitäten finden (und erfahren). Sie stimmen der Kette der Erzählungen nicht zu. Sie beharren auf ihrem Recht, die Frevel zu sühnen und die Stadt heimzusuchen.
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− | ''Die Stränge in Stuttgart12, die von einer eher dokumentarischen Lesart ausgehen, haben uns erlaubt, verschiedene Perspektiven auf die Stadt als Verhaltens-, Subjektivierungs- und Kontrollraum abzubilden. Dabei hat sich gezeigt, dass die Spannung dokumentarisch orientierter Filme in vernetzten Umgebungen weniger problematisch ist als die von inszenierten. Das mag zum einen daran liegen, dass die Handlungszeit in dokumentarischen Formaten grundsätzlich offener ist als in inszenierten, vor allem aber wahrscheinlich daran, dass Film im Internet grundsätzlich nie so fiktiv ist wie im Fernsehen, geschweige denn im Kino. Oder anders: Film ist im Internet anders fiktiv als in Fernsehen und Kino. Die diegetischen Grenzen sind durchlässiger, und der Bewusstseinsstrom ist ein anderer. Leseanweisungen, die garantieren würden, dass es sich jeweils um „inszenierte“ oder „dokumentarische“ Einheiten handelt, sind nicht so ausdifferenziert wie in Fernsehen oder Kino. Zumindest werden sie in der Youtube nicht so wahrgenommen. In dem Stuttgart12-Film „Beim Klauen erwischt“ zum Beispiel deutet nichts darauf hin, dass er eine außerfilmische Realität dokumentieren würde, ihm fehlt auch jedes authentisierende Element von Fake-Dokumentationen, es handelt sich ganz offensichtlich um einen inszenierten Film. Viele der Kommentare ignorieren das jedoch und beziehen sich auf die inszenierte Situation, als ob es sich um einen „echten“ Vorfall handle.
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− | Die Unterscheidung von „inszeniert“ und „dokumentarisch“ macht wahrscheinlich zur Kennzeichnung verschiedener Genres von Leseanweisungen eines Weltbezugs im Internet weniger Sinn als in den linearen Medien Fernsehen und Kino. Wir haben deshalb angefangen, „inszeniert“ und „dokumentarisch“ eher als Pole eines narrativen Netzes zu begreifen.
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− | Die vier dokumentarischen Protagonisten haben sehr konkrete Bezüge zu bestimmten Oberflächen eines konkreten Stadtraums, und mit ihrer Hilfe konnten wir uns konkreter auf verschiedene Perspektiven einer Stuttgarter Geografie konzentrieren. Der Grafitti-Veteran Körpaklauz beschreibt die Stadt als eine Oberfläche für Zeichen, Styles, Tags, Bombings. Oberflächen, deren Maß ihre Verortung im Sichtbarkeitsgefüge des Displays „Stuttgart“ sind. Darüber hinaus werden Oberflächen nach ihrer Ausrichtung auf die Trajektorien der SVG-Vektoren beurteilt und damit die Eisenbahn als das Medium genutzt, das sie nach Marshall McLuhan ist.
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− | Für die Obdachlosen Heinz und Ben Berber sind die Oberflächen der Stadt nicht so sehr als beschreibbare Flächen als vielmehr in ihrer genauen Stofflichkeit entscheidend. Orte unterscheiden sich in Hinblick auf Faktoren wie Wärme und Trockenheit. Dem öffentlichen Raum, den sie auf je unterschiedliche Art und Weise abfragen, steht bei Heinz das Asyl und bei Ben Berber der Schlafplatz in dem Getränkelager eines Kiosks gegenüber.''
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− | Abb. 2: offene Objekte im Restlicht
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− | ''Für Osman war in seiner Zeit als Händler illegalisierter psychoaktiver Substanzen die Stadt vor allem ein dreidimensionales Dispositiv von Überwachungs- und Kommunikationsräumen. Deren Architektur zu kennen und die Potenziale von öffentlichen Plätzen zu nutzen, sind wichtige Kompetenzen im Dealergeschäft.
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− | Die namentlich nicht genannte Parkschützerin ist eine ganz normale Bürgerin und genau als solche in den Konflikt mit einer politischen Klasse gegangen, die ihren Auftrag der Repräsentation vergessen hat. Sie nutzt das Display des Parks, eine architekturgeschichtlich der Repräsentation des Paradieses entstammende Raumkategorie, zum Zweck einer anderen Art von Bürger-Repräsentation: Wutbürger als Parknomaden bzw. Obdachlose. Eigentlich eher dem kleinbürgerlichen Milieu entstammend und damit sich eher in Innen- als in Außenräumen aufhaltend, macht sie, gerade was die Perspektive auf die Stadträume betrifft, ganz neue Erfahrungen.''
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− | Stuttgart12 will über „Stuttgart“ ein narratives Netz legen. Allerdings wäre der Ausdruck „imaginäres Netz“ auch ok, wir versuchen nämlich „Narration“ als Effekt anderer Prozesse zu begreifen. Genauso übrigens „Realität“.
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− | Das Netz hat verschiedene Pole und verschiedene Stränge, die zwischen diesen Polen verlaufen: raum-zeitliche Organisation von Ereignissen.
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− | „Stuttgart“ ist dabei einerseits: das Stoffliche, die Materie, die Erde, das (Stuttgarter) Ding und andererseits: die Fiktion (z.B. „Schwabenmetropole“), die Projektion, die Planungs- und Subjektivierungsprozesse.
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− | Wenn an einem Ort etwas passiert, verändert sich der Ort. Oder das, was passiert, verändert seinen Ort.
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− | ''An diesem Punkt fingen wir an, die Filme zu kartografieren, und kombinierten die in der Youtube veröffentlichten Filmclips mit einer google-maps-Anwendung auf einer eigenen Website: Stuttgart12.org.
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− | Wir haben die kurzen Filme auf einer digitalen Karte platziert, in der Regel dort, wo sie gedreht wurden. Dadurch sind wir mit dem Problem der internen Zeiten und dem Innen und Außen der Handlungen der Filme erheblich weiter gekommen. Die Konstruktion wurde insgesamt transparenter, und die Möglichkeiten zur Verknüpfung potenzierten sich. Durch die Überlagerung von virtuellen, inszenierten und konkreten Räumen erschlossen sich neue Möglichkeiten der Erfahrbarkeit von Komplexität, ohne sie vereinfachen zu müssen. Das machte es uns auch möglich, verschiedene Parallelversionen von einzelnen Filmen nebeneinander anzuordnen, etwa die Figuren sich an das Publikum wenden und über ihre Rolle sprechen zu lassen, wie das die Protagonistin Biggi an einer Stelle tut.''
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− | == Geokinematografie / Mediengeografie ==
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− | Das Kino ist ein schwarzer Raum, dessen Ausdehnung die Zuschauer nicht spüren sollen, während der Projektionsapparat ihre Alphawellen mit denen der fremden Mit-Zuschauer synchronisiert. Der Fernsehapparat findet im halbdunklen Wohnzimmer seinen Platz in der Familienaufstellung, die sich mit den parasozialen Implikationen des Mediums an die regierte Gesellschaft andockt. Der Platz des Personal Computers ist zunächst der Schreibtisch (desktop), dann der Schoß (laptop), das Modell der Rezeption ist die individuelle Datenbankabfrage und darauf aufbauend die Vernetzung mit den Mit-Usern, die in ähnlichen Mensch-Maschine-Rückkopplungen vor ihren Rechnern hocken. Mit dem Smartphone findet die Rezeption tendenziell wieder in einem ähnlich weiten und offenen Raum wie dem dunklen des Kinos statt, jetzt allerdings im „Draußen“, an „realen“ Orten, Daheiten, Plätzen, Transportmitteln und Öffentlichkeiten. Hier stellt sich eine neue Verbindung zwischen Film und Kartografie her.
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− | Die alte ist die, wie jeder Film in seiner Raumpolitik eine mental map im Zuschauer implementiert. Seien es die starre Raumzeit der shot / reverse shot – Handlungsachsen im klassischen Hollywoodkino, die mise en scéne – Texturen der Raum-Montagen des Neorealismus oder auch die Simulations-Räume der zeitgenössischen Comic-Adaptionen. Gleichzeitig haben Karten in Filmen immer wichtige Rollen gespielt, da sie die Positionierung des Beobachters und die Doppeldeutigkeit des „Plans“ ( to plot: sich verschwören / etwas grafisch darstellen) thematisieren. Karten tauchen in Filmen bei den Vorspännen auf, um in der zweidimensionalen Fläche der Leinwand/des Bildschirms den Raum des Films zu öffnen (etwa im Vorspann zur Fernsehserie „Bonanza“, USA 1959-1973) und die Diegese zu lokalisieren. Sie tauchen innerhalb der Diegese als Projektion von zukünftigen Handlungen (etwa in „Saskatchewan“, Raoul Walsh, USA 1954 ) auf oder als Projektion bildgebender Verfahren (prominent in dem Punkt, der den Standort des Alien im Labyrinth der „Nostromo“ abbbildet: „Alien“, Ridley Scott, GB/USA 1979).
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− | Aber sowohl beim Betrachten von Filmen als auch beim Betrachten von Karten kann sich eine irritierende Erfahrung der Dislokation einstellen. Momente, in denen der Zuschauer „aus dem Film fällt“ und sich im Kino-Raum wiederfindet, sind Momente, an denen der Film nicht „funktioniert“. Bei der Suche nach dem eigenen Standort auf einer Karte kann das „you are here“ einen ähnlichen Effekt hervorrufen: „We are no more on the map than we may be in the space indicated by its geographic signs.(…) Memories and fears of being lost – often associated with thoughts of being scattered in different places – interfere with cognition required to read the chart and to arrive at destination.“
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− | Die o.g. neue Verbindung von Kartografie und Film stellt beide Komponenten in einen grundsätzlich „simulierten“, sich in einem tendenziell austauschbaren Verhältnis von Gegenstand und Abbildung befindenden Zusammenhang. Einem Verhältnis übrigens, das, wie Borges in seinem Text „Von der Strenge der Wissenschaft“ richtig erzählt (und der von einer mit ihrem Territorium kongruenten Karte handelt), notwendig seinen eigenen Verfall impliziert.
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− | Diese Verbindung bzw. Vernetzung führt aber auch zu einem anderen Feld, nämlich dem, wo es nicht mehr um die symbolische oder imaginäre Positionierung des Subjekts und die damit einhergehende Irritation geht, sondern um die Konstruktion und die Kontrolle von Territorien: „Die Kartografie ist ein Netzwerk, das in ein paar Zentren Spuren sammelt, die für sich selbst betrachtet so lokal sind wie jeder der Punkte, die La Perouse, Cook oder Magellan kreuzen. Der einzige Unterschied besteht in der langsamen Erstellung einer Karte innerhalb dieser Zentren, einer Karte, die eine Bewegung in zwei Richtungen definiert, zu der Peripherie hin und wieder zurück. Mit anderen Worten, wir müssen das Lokalwissen der Chinesen nicht dem Universalwissen des Europäers gegenüberstellen, sondern nur zwei Lokalwissen, von denen eines die Form eines Netzwerks hat, das unveränderliche mobile Elemente (immutable mobiles) hin- und hertransportiert, um aus der Distanz zu wirken.“ Nur das jetzt das mobile nicht mehr immutable sein muss. Oder das zumindest vorgibt, das wäre nur eine Frage der technologischen Ebene, zu der man vorzudringen bereit ist.
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− | Die o.g. neue Verbindung zwischen Film und Kartografie besteht in einer scheinbaren Versöhnung der Spaltung der Eigenwahrnehmung in Beobachter und Beobachtetem. Aber wie jeder Wanderer seine Schatten, jedes Verhalten seine Konditionierungen und jede Wahrnehmung ihre blinden Flecken hat, hat jede Geografie ihre realen Parameter: von der sehr konkreten Kontrolle des Nutzers bis zu der sehr konkreten Anwendung im globalen Bürgerkrieg: Da sind dann plötzlich die Minen im Kongo, in denen das Coltan für die Smartphones abgebaut wird, ultraschnell vernetzt mit den Hochzeitsfeiern im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet, in die aus dem weiten Raum plötzlich eine Rakete aus einer der Predator-Drohnen einschlägt.
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− | Abb. 3: Wiki-Integration
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− | ''Gleichzeitig haben wir mit pragmatischen Filmformen experimentiert; Filme, die eine Art navigatorischen Gebrauchswert hatten, das sind zum einen die sogenannten Ort-Filme, die einzelne Orte strukturell erforschen, und zum anderen die sogenannten Vektor-Filme, die als Transfers funktionieren, verschiedene Sphären miteinander verbinden, die Geografie durchkreuzen.
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− | Abb.4: Orte
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− | Vom fiktiven Pol ausgehend, haben wir zuerst einen Film mit dem Titel „Beim Klauen erwischt“ gepostet. Die vielen Kommentare, die er bei den Youtube-Rezipienten provoziert hat, zeigen, wie unscharf die Ränder des Films im Netz werden. Durch die tags und Metainformationen wie durch die Kommentare und Verknüpfungen bekommt das, was außerhalb des Filmbildes ist, eine neue Funktion, bilden sich Allianzen zwischen bewegtem Bild und textueller Information. „Film“ im Internet kommuniziert auf verschiedene Arten und Weisen mit Text und wird dabei teilweise selber Text, Text-Gewebe. Wir haben das zum Anlass genommen, dem ganzen Projekt ein Wiki beiseite zu stellen, das die audiovisuellen Inhalte auf textueller Ebene noch mal anders integriert.
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− | Gleichzeitig wird die Grenze zwischen Rezeption und Kritik zu einem Ort, einer Atmosphäre, einer Zone und das Innen und Außen der Diegese zur Verhandlungssache. Deshalb haben wir großen Wert darauf gelegt, dass Stuttgart12 eben nicht ein geschlossener Erzählraum mit zwar verschiedenen Interfaces, aber nur internen Vernetzungen ist, sondern an den Rändern offen bleibt, anschlussfähig bleibt an die stetig wachsenden audiovisuellen Internet-Räume der Youtube. Tatsächlich wird ein Großteil der Videos vor allem innerhalb des Youtube-Interfaces abgerufen. Um mit den o.g. Atmosphären der Öffentlichkeit und diegetischen Unschärfe experimentieren zu können, haben wir einigen der fiktiven Protagonisten eigene Youtube-Präsenzen konstruiert.
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− | Da ist zum einen die fiktive Protagonistin Marie, die einen eigenen Videoblog führt, in dem sie der Welt ihre Gedanken und Stimmungen mitteilt. Dieser Videoblog wurde von einigen „echten“ Videobloggerinnen wahrgenommen, mit denen „Marie“ anfing, zu korrespondieren. Leider bot der Videoblog unserer fiktiven Protagonistin aber auch eine Angriffsfläche für einige sexistische Internet-Akteure, deren Verhalten uns dazu zwang, mit rechtlichen Schritten verschiedene Videos aus der Youtube entfernen zu lassen und diesen interessanten Teil des Experiments abzubrechen.
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− | Eine andere Youtube-Präsenz eines fiktiven Protagonisten ist die des paranoiden Polizisten Günther, der der schon erwähnten Verschwörungstheorie anhängt. Günther fertigt selber Videos an und bearbeitet diese nach, um mit Manipulationen an den Kompressionsalgorithmen (siehe auch weiter unten) versteckte Botschaften herauszufiltern. Mit dieser Gruppe von Filmen haben wir versucht, das Projekt an das Reale der Medien anzuknüpfen, das sich in den Störungen zeigt.
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− | Abb. 5: datagemoshtes Gewaltmonopol
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− | Ansatzweise haben wir außerdem begonnen, von diesen Präsenzen („Kanälen“) aus auch die dokumentarischen Pole von Stuttgart12 zu adressieren.
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− | Neben der Karte hatte sich aus einer internen Diskussionsplattform das Wiki entwickelt, das es uns erlaubt hat, das Projekt auf einer textuellen Ebene zu integrieren, und das wir zu einem zweiten Interface neben der Karte entwickelten, um von einem Film zum anderen zu gelangen. Sehr praktisch fanden wir dabei die Möglichkeit, Übergänge, die erzählerisch notwendig sein könnten, aber nur mit großem Aufwand filmisch zu realisieren gewesen wären, einfach auf schriftlicher Ebene zu erzählen, um damit eine Art dramaturgischer Kompressionstechnik anzuwenden, nach der nur die Eckphasen filmisch durchgeführt und die Übergänge skizziert werden.
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− | Mit der zunehmenden Anzahl von Videos auf der Karte schien es uns notwendig zu werden, ein weiteres Interface zu programmieren, das auf sequenzielle Art eine Gesamtschau ermöglicht. Wir haben, um einen (durchaus willkürlichen) zeitlichen Rahmen zu haben, einen Monat bestimmt, innerhalb dessen das Stuttgart12-Projekt „geschieht“, und jedem Clip neben dem geografischen als zweite wichtige Metadatei ein zeitliches Datum hinzugefügt. Diese Ordnung bildet sich auf dem Interface der timeline ab, das neben den geografischen Kriterien transparent macht, welche Clips in (erzähl-)zeitlicher Nähe oder Parallelität zueinander stehen.
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− | Übrigens geht bei keinem der am Projekt Beteiligten die Programmierkompetenz über die eines „Powerusers“ mit rudimentären HTML-Kenntnissen hinaus. Wir haben die Grundlagen sowohl für die Karte als auch die timeline aus der open-source-community bekommen und an unsere Bedürfnisse angepasst.
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− | „Remedialisierung“ hat nämlich auch Einflüsse auf den Zugang zu Produktionsmitteln. Indem die Videoschnittplätze, die Bandmaschinen, die Mischpulte, Filter, Oszilloskopen und Peakmeter nach und nach von ihren Wiedergängern als Applikationen auf dem Monitor verdrängt wurden und aus der realen Ding-Welt verschwanden, fand eine Enteignung und Monopolisierung von Ingenieurswissen statt, das zuvor noch dezentral in den Werkstätten der Elektronikspezialisten und -bastlern verteilt war. Die digitalen Geister-Geräte sind zwar in der (vorgesehenen) Benutzung leichter zugänglich als ihre stofflichen Vorgänger, aber der Preis ist ein Verschluss der operativen Ebene des Geräts unter dem Vorwand der Usability und der Absturzsicherheit. Dass das auch anders und zwar viel besser geht, beweist die kommunitäre Wissensorganisation des Open Source.
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− | == Kompression ==
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− | „Film“ als Medium, das Bewegungen und Bilder optochemisch speichert und überträgt, funktioniert ja grundsätzlich so, dass fotografische Einzelbilder stroboskopisch auf eine Leinwand projiziert werden. Zwischen dem einen und dem nächsten Einzelbild muss der Film transportiert werden, und während des Transports des Filmstreifens muss die Projektion unterbrochen werden, was zur Folge hat, dass wir in der Hälfte der Zeit während der Projektion einer optochemischen Filmkopie im Dunkeln sitzen. Die psychotechnischen Konsequenzen sind an anderer Stelle (Ute Holl: Kino, Trance & Kybernetik, Berlin 2002) erforscht worden.
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− | Das ist mit dem elektronischen Film (bzw. Fernsehen) schon anders, vor allem aber mit dem digitalen Film: Im postfilmischen Kino gibt es keinen mechanischen Bildtransport mehr, sondern eine „framed time“, keinen flicker, sondern tendenziell eine fortwährende Mutation innerhalb eines feststehenden Rahmens.
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− | Und auf der Seite der Aufzeichnung: Digitales Video, seit es durch die verschiedenen Generationen der mpeg-Algorithmen komprimiert wird, zeichnet zwischen den i-frames (= intra-frames), die das ganze Einzelbild speichern, nur die p-frames (= predictive-coded frames) auf, die nichts als die (Bewegungs-)Differenzen zum letzten i-frame speichern. Eine Minute Empire-State-Building (vorausgesetzt, niemand geht raus, rein oder dran vorbei) sind dann nicht mehr 1500 Einzelbilder, sondern die Anweisung „1500 mal das Bild“. Bis ein Taxi vorbeifährt, das als bewegtes Element im Bild identifiziert wird und das in den p-frames aus den umgebenden i-frames als Objekt mit einem Vektor interpoliert wird. Der heute gebräuchliche zehnte Teil des mpeg-4-Standards H.264 oder mpeg-4 AVC ist in der Kompression noch effizienter und kann unter anderem sowohl innerhalb der i-frames Bildvorhersagealgorithmen anwenden als auch bis zu 16 vorhergehende i-frames in die Interpolation mit einbeziehen.
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− | Abb. 6: timeline
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− | Damit deutet sich ein vollkommen neues kinematografisches Bild an: Es werden nicht mehr fotografische Bewegungsschnitte (Einzelbilder) aneinandergereiht, sondern die Bewegung vom Körper getrennt wie das Grinsen von der Katze. Filmaufnahmen werden zu einer Live-Simulation des Bildes (falls das noch eines ist) durch Objekte und ihre Vektoren. Und damit stellt sich ein weiterer Zusammenhang zwischen Filmen und Kartografieren her, der die beiden Abbildungstechniken ununterscheidbar macht.
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− | Deshalb haben die elektronischen Bilder auch kein hors-champ mehr, wie Deleuze schreibt, und „sind Gegenstand einer fortlaufenden Reorganisation, bei der ein neues Bild aus einem beliebigen Punkt des vorhergehenden Bildes entstehen kann“. Und weiter: „Die Raumorganisation verliert damit ihre privilegierten Richtlinien – allen voran das Privileg der Vertikalen, von dem nach wie vor die Position der Leinwand zeugt – zugunsten eines ungerichteten Raums, der unaufhörlich seine Winkel und Koordinaten verändert, seine Vertikalen und Horizontalen vertauscht. Und selbst die Leinwand, auch wenn sie immer noch vertikal aufgehängt ist, scheint nicht mehr auf die Position des Betrachters zu verweisen, wie dies bei einem Fenster oder auch bei einem Bild der Fall ist, sondern stellt eher eine Informationstafel dar, eine undurchsichtige Oberfläche, auf der die ‚Daten‘ verzeichnet sind. Information tritt an die Stelle von Natur, und die Überwachungszentrale, das dritte Auge, ersetzt das Auge der Natur.“
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− | Im Zeitalter der Objekt/Vektor-Bilder setzen Re-Engeneering-Ästhetiken und solche, die die Materialität des Mediums befragen, nicht mehr beim Flackern (wie z.B. Tony Conrad 1965) an, sondern an der Kompression. Etwa mit der Technik des Databending, des Glitch, des Data-Moshing, bei der mit verschiedenen Operationen der Kompressionsalgorithmus überlistet wird und die zu etwas anderem als der Simulation von Wirklichkeit und stattdessen zu einer neuen Art von Malerei, zu Wisch- und Schmiereffekten, zu einem Umbiegen der Vektoren und einem Eigenleben der Artefakte und der Proto-Gestalten der predicted frames genutzt wird.
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− | Aus dem im Kanal rückgekoppelten Exekutivorgan „Günther“ und seinen verschiedenen intra- und extradiegetischen Emanationen hat sich ein viertes Stuttgart12-Interface entwickelt: die „Para-Karte“. Die Para-Karte ist ein scheinbar verschlosseneres Interface, dessen Zugang mit einer Art Deck-Bilder funktioniert und dessen Ordnung entweder total willkürlich oder total überdeterminiert ist, was nicht immer auseinanderzuhalten ist.
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− | Abb.7: Parakarte
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− | Schließlich hat Stuttgart12 seine virtuelle Geografie auf konkrete und aktuelle Lebensräume zurückgebogen: Zu nennen wären dabei der Projektraum, den die Beteiligten Leon Filter und Florian Clewe im März 2011 im Utopia Parkway im Gerberviertel implementiert haben und in dem sie unter dem Label „Stuttgarter Kompressionen“ Veranstaltungen und temporäre Projekte durchgeführt haben, unter anderem eine Art Expanded-Internet-Cinema-Stadtführung, die anhand von Orten, an denen Youtube-Mitglieder Videos gemacht haben, Trajektorien der Augenwinkel- und Remix-Filme nachzeichnete, indem die Videos während der Stadtführung an diese Orte zurückprojiziert wurden. Auf Stadtführungen sollte man übrigens immer einen Schirm mitnehmen.
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| <videoflash>BXg8bRTg8eY|230|160</videoflash> | | <videoflash>BXg8bRTg8eY|230|160</videoflash> |
| ''Theorie im Film: [http://www.stuttgart12.org/?openbyname=Biggi%20exaltiert Biggi exaltiert]'' | | ''Theorie im Film: [http://www.stuttgart12.org/?openbyname=Biggi%20exaltiert Biggi exaltiert]'' |
Das Projekt berührt zahlreiche theoretische Fragen, die für die Erforschung der Zone zwischen Film und Neuen Medien relevant sind:
1) Materialität des Bildes:
Wo „Kino“ nicht mehr notwendigerweise Flackern, Korn, synchrones Einzelbild ist und „Fernsehen“ nicht mehr notwendigerweise Flimmern, Zeile und diachrones Signal, wo die Residuen beider Kulturtechniken als „Anwendungen“ oder „Contents“ auf der Leinwand, dem TFT-Bildschirm, dem Smartphone angeschaut werden können, stellt sich der Filmtheorie das Problem, das „Gleiche“ in den Griff zu kriegen, das medienontologisch unterschiedlich übertragen wird, ohne in einen alten idealistischen Bildbegriff zurückzufallen.
2) Grenze des Bildes:
Deleuze schrieb, dass das digitale Bild kein hors champ mehr habe. Wo audiovisuelle Inhalte „auf“ dem Computerbildschirm „in“ einem „Fenster“ neben anderen angeschaut werden, wird die alte Dichotomie der Filmtheorie „Fenster“ vs „Rahmen“, Realismus vs Konstruktivismus, phänomenologisch vs formgebend kurz: Kracauer vs Arnheim in den Hintergrund geschoben und mutiert zu einer möglichen Anwendung unter anderen.
3) Durchlässigkeit der Werkgrenzen:
Wo „Öffentlichkeit“ nicht nur als Publikum eines Werkes bzw. Adressat einer Botschaft, sondern als konstituierender Bestandteil eines solchen gesucht wird, stellen sich Fragen nach der Durchlässigkeit der Werkgrenzen, der Offenheit der Komposition und der Ausgedehntheit der Zeichen.