Geokinematografie

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Geokinematografie / Mediengeografie

Das Kino ist ein schwarzer Raum, dessen Ausdehnung die Zuschauer nicht spüren sollen, während der Projektionsapparat ihre Alphawellen mit denen der fremden Mit-Zuschauer synchronisiert. Der Fernsehapparat findet im halbdunklen Wohnzimmer seinen Platz in der Familienaufstellung, die sich mit den parasozialen (1) Implikationen des Mediums an die regierte Gesellschaft andockt. Der Platz des Personal Computers ist zunächst der Schreibtisch (desktop), dann der Schoß (laptop), das Modell der Rezeption ist die individuelle Datenbankabfrage und darauf aufbauend die Vernetzung mit den Mit-Usern, die in ähnlichen Mensch-Maschine-Rückkopplungen vor ihren Rechnern hocken. Mit dem Smartphone findet die Rezeption tendenziell wieder in einem ähnlich weiten und offenen Raum wie dem dunklen des Kinos statt, jetzt allerdings im „Draußen“, an „realen“ Orten, Daheiten, Plätzen, Transportmitteln und Öffentlichkeiten. Hier stellt sich eine neue Verbindung zwischen Film und Kartografie her.

Die alte ist die, wie jeder Film in seiner Raumpolitik eine mental map im Zuschauer implementiert. Seien es die starre Raumzeit der shot / reverse shot – Handlungsachsen im klassischen Hollywoodkino, die mise en scéne – Texturen der Raum-Montagen des Neorealismus oder auch die Simulations-Räume der zeitgenössischen Comic-Adaptionen. Gleichzeitig haben Karten in Filmen immer wichtige Rollen gespielt, da sie die Positionierung des Beobachters und die Doppeldeutigkeit des „Plans“ ( to plot: sich verschwören / etwas grafisch darstellen) thematisieren. Karten tauchen in Filmen bei den Vorspännen auf, um in der zweidimensionalen Fläche der Leinwand/des Bildschirms den Raum des Films zu öffnen (etwa im Vorspann zur Fernsehserie „Bonanza“, USA 1959-1973) (2) und die Diegese zu lokalisieren. Sie tauchen innerhalb der Diegese als Projektion von zukünftigen Handlungen (etwa in „Saskatchewan“, Raoul Walsh, USA 1954 ) auf oder als Projektion bildgebender Verfahren (prominent in dem Punkt, der den Standort des Alien im Labyrinth der „Nostromo“ abbbildet: „Alien“, Ridley Scott, GB/USA 1979).

Aber sowohl beim Betrachten von Filmen als auch beim Betrachten von Karten kann sich eine irritierende Erfahrung der Dislokation einstellen. Momente, in denen der Zuschauer „aus dem Film fällt“ und sich im Kino-Raum wiederfindet, sind Momente, an denen der Film nicht „funktioniert“. Bei der Suche nach dem eigenen Standort auf einer Karte kann das „you are here“ einen ähnlichen Effekt hervorrufen: „We are no more on the map than we may be in the space indicated by its geographic signs.(…) Memories and fears of being lost – often associated with thoughts of being scattered in different places – interfere with cognition required to read the chart and to arrive at destination.“ (3)

Die o.g. neue Verbindung von Kartografie und Film stellt beide Komponenten in einen grundsätzlich „simulierten“, sich in einem tendenziell austauschbaren Verhältnis von Gegenstand und Abbildung befindenden Zusammenhang. Einem Verhältnis übrigens, das, wie Borges in seinem Text „Von der Strenge der Wissenschaft“ richtig erzählt (und der von einer mit ihrem Territorium kongruenten Karte handelt), notwendig seinen eigenen Verfall impliziert. (4)

Diese Verbindung bzw. Vernetzung führt aber auch zu einem anderen Feld, nämlich dem, wo es nicht mehr um die symbolische oder imaginäre Positionierung des Subjekts und die damit einhergehende Irritation geht, sondern um die Konstruktion und die Kontrolle von Territorien: „Die Kartografie ist ein Netzwerk, das in ein paar Zentren Spuren sammelt, die für sich selbst betrachtet so lokal sind wie jeder der Punkte, die La Perouse, Cook oder Magellan kreuzen. Der einzige Unterschied besteht in der langsamen Erstellung einer Karte innerhalb dieser Zentren, einer Karte, die eine Bewegung in zwei Richtungen definiert, zu der Peripherie hin und wieder zurück. Mit anderen Worten, wir müssen das Lokalwissen der Chinesen nicht dem Universalwissen des Europäers gegenüberstellen, sondern nur zwei Lokalwissen, von denen eines die Form eines Netzwerks hat, das unveränderliche mobile Elemente (immutable mobiles) hin- und hertransportiert, um aus der Distanz zu wirken.“ (5) Nur das jetzt das mobile nicht mehr immutable sein muss. Oder das zumindest vorgibt, das wäre nur eine Frage der technologischen Ebene, zu der man vorzudringen bereit ist.

Die o.g. neue Verbindung zwischen Film und Kartografie besteht in einer scheinbaren Versöhnung der Spaltung der Eigenwahrnehmung in Beobachter und Beobachtetem. Aber wie jeder Wanderer seine Schatten, jedes Verhalten seine Konditionierungen und jede Wahrnehmung ihre blinden Flecken hat, hat jede Geografie ihre realen Parameter: von der sehr konkreten Kontrolle des Nutzers bis zu der sehr konkreten Anwendung im globalen Bürgerkrieg: Da sind dann plötzlich die Minen im Kongo, in denen das Coltan für die Smartphones abgebaut wird, ultraschnell vernetzt mit den Hochzeitsfeiern im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet, in die aus dem weiten Raum plötzlich eine Rakete aus einer der Predator-Drohnen einschlägt.


Gleichzeitig haben wir mit pragmatischen Filmformen experimentiert; Filme, die eine Art navigatorischen Gebrauchswert hatten, das sind zum einen die sogenannten Ort-Filme, die einzelne Orte strukturell erforschen, und zum anderen die sogenannten Vektor-Filme, die als Transfers funktionieren, verschiedene Sphären miteinander verbinden, die Geografie durchkreuzen.


Abb.4: Orte


Vom fiktiven Pol ausgehend, haben wir zuerst einen Film mit dem Titel „Beim Klauen erwischt“ gepostet. Die vielen Kommentare, die er bei den Youtube-Rezipienten provoziert hat, zeigen, wie unscharf die Ränder des Films im Netz werden. Durch die tags und Metainformationen wie durch die Kommentare und Verknüpfungen bekommt das, was außerhalb des Filmbildes ist, eine neue Funktion, bilden sich Allianzen zwischen bewegtem Bild und textueller Information. „Film“ im Internet kommuniziert auf verschiedene Arten und Weisen mit Text und wird dabei teilweise selber Text, Text-Gewebe. Wir haben das zum Anlass genommen, dem ganzen Projekt ein Wiki beiseite zu stellen, das die audiovisuellen Inhalte auf textueller Ebene noch mal anders integriert.

Gleichzeitig wird die Grenze zwischen Rezeption und Kritik zu einem Ort, einer Atmosphäre, einer Zone und das Innen und Außen der Diegese zur Verhandlungssache. Deshalb haben wir großen Wert darauf gelegt, dass Stuttgart12 eben nicht ein geschlossener Erzählraum mit zwar verschiedenen Interfaces, aber nur internen Vernetzungen ist, sondern an den Rändern offen bleibt, anschlussfähig bleibt an die stetig wachsenden audiovisuellen Internet-Räume der Youtube. Tatsächlich wird ein Großteil der Videos vor allem innerhalb des Youtube-Interfaces abgerufen. Um mit den o.g. Atmosphären der Öffentlichkeit und diegetischen Unschärfe experimentieren zu können, haben wir einigen der fiktiven Protagonisten eigene Youtube-Präsenzen konstruiert.

Da ist zum einen die fiktive Protagonistin Marie, die einen eigenen Videoblog führt, in dem sie der Welt ihre Gedanken und Stimmungen mitteilt. Dieser Videoblog wurde von einigen „echten“ Videobloggerinnen wahrgenommen, mit denen „Marie“ anfing, zu korrespondieren. Leider bot der Videoblog unserer fiktiven Protagonistin aber auch eine Angriffsfläche für einige sexistische Internet-Akteure, deren Verhalten uns dazu zwang, mit rechtlichen Schritten verschiedene Videos aus der Youtube entfernen zu lassen und diesen interessanten Teil des Experiments abzubrechen.

Eine andere Youtube-Präsenz eines fiktiven Protagonisten ist die des paranoiden Polizisten Günther, der der schon erwähnten Verschwörungstheorie anhängt. Günther fertigt selber Videos an und bearbeitet diese nach, um mit Manipulationen an den Kompressionsalgorithmen (siehe auch weiter unten) versteckte Botschaften herauszufiltern. Mit dieser Gruppe von Filmen haben wir versucht, das Projekt an das Reale der Medien anzuknüpfen, das sich in den Störungen zeigt.


Abb. 5: datagemoshtes Gewaltmonopol

Ansatzweise haben wir außerdem begonnen, von diesen Präsenzen („Kanälen“) aus auch die dokumentarischen Pole von Stuttgart12 zu adressieren.

Neben der Karte hatte sich aus einer internen Diskussionsplattform das Wiki entwickelt, das es uns erlaubt hat, das Projekt auf einer textuellen Ebene zu integrieren, und das wir zu einem zweiten Interface neben der Karte entwickelten, um von einem Film zum anderen zu gelangen. Sehr praktisch fanden wir dabei die Möglichkeit, Übergänge, die erzählerisch notwendig sein könnten, aber nur mit großem Aufwand filmisch zu realisieren gewesen wären, einfach auf schriftlicher Ebene zu erzählen, um damit eine Art dramaturgischer Kompressionstechnik anzuwenden, nach der nur die Eckphasen filmisch durchgeführt und die Übergänge skizziert werden.

Mit der zunehmenden Anzahl von Videos auf der Karte schien es uns notwendig zu werden, ein weiteres Interface zu programmieren, das auf sequenzielle Art eine Gesamtschau ermöglicht. Wir haben, um einen (durchaus willkürlichen) zeitlichen Rahmen zu haben, einen Monat bestimmt, innerhalb dessen das Stuttgart12-Projekt „geschieht“, und jedem Clip neben dem geografischen als zweite wichtige Metadatei ein zeitliches Datum hinzugefügt. Diese Ordnung bildet sich auf dem Interface der timeline ab, das neben den geografischen Kriterien transparent macht, welche Clips in (erzähl-)zeitlicher Nähe oder Parallelität zueinander stehen.

Übrigens geht bei keinem der am Projekt Beteiligten die Programmierkompetenz über die eines „Powerusers“ mit rudimentären HTML-Kenntnissen hinaus. Wir haben die Grundlagen sowohl für die Karte als auch die timeline aus der open-source-community bekommen und an unsere Bedürfnisse angepasst. „Remedialisierung“ hat nämlich auch Einflüsse auf den Zugang zu Produktionsmitteln. Indem die Videoschnittplätze, die Bandmaschinen, die Mischpulte, Filter, Oszilloskopen und Peakmeter nach und nach von ihren Wiedergängern als Applikationen auf dem Monitor verdrängt wurden und aus der realen Ding-Welt verschwanden, fand eine Enteignung und Monopolisierung von Ingenieurswissen statt, das zuvor noch dezentral in den Werkstätten der Elektronikspezialisten und -bastlern verteilt war. Die digitalen Geister-Geräte sind zwar in der (vorgesehenen) Benutzung leichter zugänglich als ihre stofflichen Vorgänger, aber der Preis ist ein Verschluss der operativen Ebene des Geräts unter dem Vorwand der Usability und der Absturzsicherheit. Dass das auch anders und zwar viel besser geht, beweist die kommunitäre Wissensorganisation des Open Source.



Einzelnachweise

(1) Donald Horton, R. Richard Wohl, „Mass Communication and Para-Social Interaction. Observations on intimacy at a distance“, in: Psychiatry 19/3 (1956). S. 215-229

(2) Aber auch in den Logos der Studios, die teilweise kartografische Elemente enthalten: siehe Tom Conley, Cartographic Cinema, Minneapolis 2007, S. 2.

(3) Conley, Cartographic Cinema, a.a.O., S. 15.

(4) Jorge Luis Borges, Borges und ich, in: ders., Gesammelte Werke, München 1982, S. 121.

(5) „To provide location-based services on Apple products, Apple and our partners and licensees may collect, use, and share precise location data, including the real-time geographic location of your Apple computer or device.“ (http://www.apple.com/privacy/).

(6) Bruno Latour, Die Logistik der immutable mobiles, in: Mediengeografie. Theorie - Analyse - Diskussion, hrsg. v. Jörg Döning und Tristan Thielmann, Bielefeld 2009, S. 132.

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