Dramaturgie(Erinnyen)

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Für die paranormalen Ausfransungen haben wir einen Chor eingeführt, der an die Präsenz der Toten auf den anderen Seiten der Bildschirmmedien erinnert.


Dramaturgie2: Erinnyen

„Du willst mich Alte niederrennen, Knabe. Doch / Ich harre aus, zu hören, wie das Urteil fällt. / Werd ich ergrimmt sein auf die Stadt? Noch weiß ich's nicht.“

Sagt bei Aischylos die Chorführerin der Eumeniden (=Erinnyen) zu Apoll. Der hat nämlich Orest dazu angestiftet, seine Mutter Klytaimestra umzubringen, die wiederum ihren Mann (und Orests Vater) Agamemnon nach seiner Rückkehr aus dem Trojanischen Krieg abgeschlachtet hatte, weil der ihre Tochter Iphigenie der Göttin Artemis geopfert hatte... Der Gott der Dichtkunst bringt das abstrakte Recht in Anschlag, das über den Dingen schwebt und wägt und Kausalketten rekonstruiert, die vorzeitlichen Rachegöttinnen dagegen berufen sich auf das uralte Vor-Recht des Blutes, nach dem der Mord an der Mutter ein Frevel ist, der außerhalb jeder Rechtfertigung steht. Apoll: die Rekonstruktion von Kausalketten zu einem Text (Familientragödie). Erinnyen: die blinde Jagd nach der Spur des Realen, des Restes, der Schlacke des Blutes, die nicht in der Repräsentation aufgeht (Rache).

Jede Erzählung, sei sie nun als „dokumentarische“ oder als „inszenierte“ zu lesen, stellt eine Oberfläche bereit, auf die die Protagonisten als Figuren (der AutorIn, des Publikums...) projiziert werden können. Und wie jede Projektion schließt sie das aus, was weder im Symbolischen noch im Imaginären einen Platz findet. Das wäre vielleicht eine Art vertikaler Komponente zur Erzählung, deren einer (parafiktionaler) Pol die Materie und deren anderer (metafiktionaler) Pol die Paranoia ist. Dieser Spur folgend stehen die Mineralgeister auf der anderen Seite des Phantoms P12, dem Günther nachjagt und dem er mit seinen Recherchen in den Kompressionsartefakten auf die Schliche kommen will. Die Mineralgeister, sich selber mit Ach und Krach unvermittelt und vollkommen frei von jeder Kontinuität (geschweige denn: Kausalität) in die Medien projizierend, stellen sich zunächst vor bzw. übersetzen ihre Identität in dieses für sie merkwürdige und äußerst gewalttätige Milieu. Alsdann nehmen sie Bezug auf die erbärmliche Oberfläche der Erzählung und darüber hinaus jeder Art von Geschichtlichkeit überhaupt. Mit der Nase am Boden hetzen sie den Blutspuren hinterher, die die Kommunizierer und Spekulanten, die Erde schändend, auf ihr hinterlassen. Die Mineralgeister, sich einmal auf die idiotische Zeitlichkeit der menschlichen Rede eingelassen, scheinen vorsprachliche Muster nutzen zu können, um sich einen Kanal in die Repräsentation zu öffnen. Komprimieren und Verstopfen ist alles, was sie dort an Aktivitäten finden (und erfahren). Sie stimmen der Kette der Erzählungen nicht zu. Sie beharren auf ihrem Recht, die Frevel zu sühnen und die Stadt heimzusuchen.

Die Stränge in Stuttgart12, die von einer eher dokumentarischen Lesart ausgehen, haben uns erlaubt, verschiedene Perspektiven auf die Stadt als Verhaltens-, Subjektivierungs- und Kontrollraum abzubilden. Dabei hat sich gezeigt, dass die Spannung dokumentarisch orientierter Filme in vernetzten Umgebungen weniger problematisch ist als die von inszenierten. Das mag zum einen daran liegen, dass die Handlungszeit in dokumentarischen Formaten grundsätzlich offener ist als in inszenierten, vor allem aber wahrscheinlich daran, dass Film im Internet grundsätzlich nie so fiktiv ist wie im Fernsehen, geschweige denn im Kino. Oder anders: Film ist im Internet anders fiktiv als in Fernsehen und Kino. Die diegetischen Grenzen sind durchlässiger, und der Bewusstseinsstrom ist ein anderer. Leseanweisungen, die garantieren würden, dass es sich jeweils um „inszenierte“ oder „dokumentarische“ Einheiten handelt, sind nicht so ausdifferenziert wie in Fernsehen oder Kino. Zumindest werden sie in der Youtube nicht so wahrgenommen. In dem Stuttgart12-Film „Beim Klauen erwischt“ zum Beispiel deutet nichts darauf hin, dass er eine außerfilmische Realität dokumentieren würde, ihm fehlt auch jedes authentisierende Element von Fake-Dokumentationen, es handelt sich ganz offensichtlich um einen inszenierten Film. Viele der Kommentare ignorieren das jedoch und beziehen sich auf die inszenierte Situation, als ob es sich um einen „echten“ Vorfall handle. Die Unterscheidung von „inszeniert“ und „dokumentarisch“ macht wahrscheinlich zur Kennzeichnung verschiedener Genres von Leseanweisungen eines Weltbezugs im Internet weniger Sinn als in den linearen Medien Fernsehen und Kino. Wir haben deshalb angefangen, „inszeniert“ und „dokumentarisch“ eher als Pole eines narrativen Netzes zu begreifen.

Die vier dokumentarischen Protagonisten haben sehr konkrete Bezüge zu bestimmten Oberflächen eines konkreten Stadtraums, und mit ihrer Hilfe konnten wir uns konkreter auf verschiedene Perspektiven einer Stuttgarter Geografie konzentrieren. Der Grafitti-Veteran Körpaklauz beschreibt die Stadt als eine Oberfläche für Zeichen, Styles, Tags, Bombings. Oberflächen, deren Maß ihre Verortung im Sichtbarkeitsgefüge des Displays „Stuttgart“ sind. Darüber hinaus werden Oberflächen nach ihrer Ausrichtung auf die Trajektorien der SVG-Vektoren beurteilt und damit die Eisenbahn als das Medium genutzt, das sie nach Marshall McLuhan ist. Für die Obdachlosen Heinz und Ben Berber sind die Oberflächen der Stadt nicht so sehr als beschreibbare Flächen als vielmehr in ihrer genauen Stofflichkeit entscheidend. Orte unterscheiden sich in Hinblick auf Faktoren wie Wärme und Trockenheit. Dem öffentlichen Raum, den sie auf je unterschiedliche Art und Weise abfragen, steht bei Heinz das Asyl und bei Ben Berber der Schlafplatz in dem Getränkelager eines Kiosks gegenüber.

Für Osman war in seiner Zeit als Händler illegalisierter psychoaktiver Substanzen die Stadt vor allem ein dreidimensionales Dispositiv von Überwachungs- und Kommunikationsräumen. Deren Architektur zu kennen und die Potenziale von öffentlichen Plätzen zu nutzen, sind wichtige Kompetenzen im Dealergeschäft. Die namentlich nicht genannte Parkschützerin ist eine ganz normale Bürgerin und genau als solche in den Konflikt mit einer politischen Klasse gegangen, die ihren Auftrag der Repräsentation vergessen hat. Sie nutzt das Display des Parks, eine architekturgeschichtlich der Repräsentation des Paradieses entstammende Raumkategorie, zum Zweck einer anderen Art von Bürger-Repräsentation: Wutbürger als Parknomaden bzw. Obdachlose. Eigentlich eher dem kleinbürgerlichen Milieu entstammend und damit sich eher in Innen- als in Außenräumen aufhaltend, macht sie, gerade was die Perspektive auf die Stadträume betrifft, ganz neue Erfahrungen.

Stuttgart12 will über „Stuttgart“ ein narratives Netz legen. Allerdings wäre der Ausdruck „imaginäres Netz“ auch ok, wir versuchen nämlich „Narration“ als Effekt anderer Prozesse zu begreifen. Genauso übrigens „Realität“. Das Netz hat verschiedene Pole und verschiedene Stränge, die zwischen diesen Polen verlaufen: raum-zeitliche Organisation von Ereignissen. „Stuttgart“ ist dabei einerseits: das Stoffliche, die Materie, die Erde, das (Stuttgarter) Ding und andererseits: die Fiktion (z.B. „Schwabenmetropole“), die Projektion, die Planungs- und Subjektivierungsprozesse. Wenn an einem Ort etwas passiert, verändert sich der Ort. Oder das, was passiert, verändert seinen Ort.

An diesem Punkt fingen wir an, die Filme zu kartografieren, und kombinierten die in der Youtube veröffentlichten Filmclips mit einer google-maps-Anwendung auf einer eigenen Website: Stuttgart12.org. Wir haben die kurzen Filme auf einer digitalen Karte platziert, in der Regel dort, wo sie gedreht wurden. Dadurch sind wir mit dem Problem der internen Zeiten und dem Innen und Außen der Handlungen der Filme erheblich weiter gekommen. Die Konstruktion wurde insgesamt transparenter, und die Möglichkeiten zur Verknüpfung potenzierten sich. Durch die Überlagerung von virtuellen, inszenierten und konkreten Räumen erschlossen sich neue Möglichkeiten der Erfahrbarkeit von Komplexität, ohne sie vereinfachen zu müssen. Das machte es uns auch möglich, verschiedene Parallelversionen von einzelnen Filmen nebeneinander anzuordnen, etwa die Figuren sich an das Publikum wenden und über ihre Rolle sprechen zu lassen, wie das die Protagonistin Biggi an einer Stelle tut.


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